Ein Herbsttag mitte der sechziger Jahre. Ich studiere an der Musikhochschule in Stockholm und laufe gerade durch den leicht gekrümmten Korridor zu einer meiner Unterrichtsstunden. Da erblicke ich plötzlich einen merkwürdigen Mann. Er sitzt in einem Sessel in einer der Nischen zwischen den Übungsräumen, ganz in Schwarz gekleidet – in einer Art langen, weiten Priesterkutte, mit kahlgeschorenem Kopf, einem langen, grauen Bart, in der Hand einen breitkrempigen schwarzen Hut. Es findet keinerlei Kommunikation zwischen uns statt, aber ich kann noch seinen Blick einfangen: einen seltsam intensiven und durchdringenden Blick, den man nie vergißt.
Kaum im Unterrichtsraum angelangt, erfahre ich, wer dieser merkwürdige Mann ist: „Hast du diesen Verrückten gesehen, der da draußen im Gang sitzt? Der Kerl ist nicht ganz dicht! Allgén heißt er. Er nennt sich Komponist, aber er schreibt nur ganze Noten! Und dann hat er sich um die Nachfolge für die Professur von Lars-Erik Larsson beworben. Man kann doch keinen Kompositionsprofessor einstellen, der nur ganze Noten schreibt!!“
Diese meine erste Erinnerung an Claude Loyola Allgén spiegelt in bezeichnender Weise all die Bestandteile wider, die das landläufige Bild von ihm in den letzten fünfzig Jahren geprägt haben – und es heute noch tun: Unkenntnis und Vorurteil, gepaart mit Böswilligkeit und Verleumdung.
Wie kann es sein, daß ein schwedischer Komponist des zwanzigsten Jahrhunderts mit einer umfangreichen Produktion, Ergebnis eines mehr als fünfzigjährigen Schaffens – eines Lebenswerks also – noch immer praktisch unbekannt ist? Woran liegt es, daß die Werke, die überhaupt jemals zur Aufführung kamen, so wenige sind, daß sie – zumindest bis vor ein paar Jahren – an fünf Fingern abgezählt werden konnten? Wieso, aus welchen Gründen wurde ein Komponist ein halbes Jahrhundert lang entweder vollkommen vernachlässigt oder einer Verleumdung ausgesetzt, die in ihrer Gehässigkeit beinahe an Verfolgung grenzt? Ist es vielleicht mein eigenes Engagement für Allgén, das mir hier den Blick verstellt? Hat er sich selbst unmöglich gemacht oder wurde er wirklich bewußt und aktiv vom sogenannten Musikbetrieb bekämpft? Und wenn ja, warum?
Es sind der Fragezeichen viele, und es werden noch mehr, sobald man einen Blick in Allgéns Partituren wirft. Hier begegnet man einem geradezu überlaufenden Reichtum, einer Glut und Intensität, die so gar nichts mit jenen „ständig laufenden Sechzehnteln“ oder den eben zitierten ganzen Noten gemein haben, die der Leumund dem Komponisten andichten will. Hier ist eine artikulierte Kraft und ein Ausdruckswille, die ihresgleichen suchen und die mich ungeheuer stark bewegt haben, als ich begann, Allgéns Partituren zu studieren.
„Warum?“, dachte ich und wurde von Zorn ergriffen. „Warum ist mir dies vorenthalten worden?“ Nun, die Antwort sollte ich bald bekommen, jedenfalls die allgemeine, offizielle Antwort, als ich nämlich verschiedene Musikbibliotheken in Stockholm aufsuchte, um mir über dieses riesenhafte Œuvre einen Überblick zu verschaffen. Überall beschied man mir das gleiche:
„Partituren von Allgén ausleihen? Aber das ist doch Musik, die man nicht spielen kann!“
„Ach ja, haben Sie es versucht?“
„Nein, aber das habe ich gehört.“
„Haben Sie eine seiner Partituren gesehen?“
„Nein, aber seine Musik ist unspielbar. Das sagen alle.“
Zu dieser Zeit, im Frühjahr 1988, hatte ich Allgén noch nicht persönlich kennengelernt, aber ich bereitete mich vor wie ein Student auf eine Prüfung. Zunächst suchte ich nach biographischen Fakten. Also schlug ich in dem Standardwerk Vår tids musik i Norden („Zeitgenössische Musik im Norden“) nach und fand… nichts. Er wurde nicht einmal erwähnt! Auch meine weiteren Nachforschungen in Büchern und Nachschlagewerken zeitigten nur recht magere Ergebnisse. Auffällig war allerdings, daß Allgén an den Stellen, wo er überhaupt genannt wird, durch eine säuerlich-ironische Passage aus einem Brief Karl-Birger Blomdahls an Leif Kayser charakterisiert wird. Dort wird Allgén als hyperintellektueller Theoretiker geschildert, der Fugen „unter hundertprozentiger Ausnutzung des Materials und in praktisch unspielbaren Tempi“ schreibe. Dieses Urteil, das sich in Wirklichkeit auf eine Komposition namens Exempel på 9-dubbel 100 % tematisk kontrapunkt („Beispiel für einen neunfachen, 100 % thematischen Kontrapunkt“) bezieht, wurde allerdings bereits 1945 gefällt und seitdem nicht mehr ernsthaft hinterfragt.
Nur wenige Musikkritiker haben sich seither die Mühe gemacht, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Außerdem ist der Hauptteil von Allgéns Werk nach 1945 entstanden und vermittelt natürlich ein völlig anderes und wesentlich facettenreicheres Bild seines Urhebers.
Irgendwann fühlte ich mich dann reif, mit Allgén Kontakt aufzunehmen. Ich schrieb ihm einen Brief, in dem ich mein Interesse an seiner Klaviermusik erklärte – besonders an der großen Fantasia – und ein Treffen anregte. Allgén reagierte sofort. Er rief mich vom Sozialamt in Täby an, wo er immer zum Telefonieren hinging. Er selbst hatte seit vielen Jahren kein Telefon mehr. Wir vereinbarten Datum und Uhrzeit und daß er mich an dem Stockholmer Vorstadtbahnhof Roslags Näsby abholen sollte.
Ich erinnere mich daran, wie ich während der kurzen Zugfahrt fieberhaft und bis zur letzten Minute Partituren, die Geschichte des Katholizismus, die neoscholastische Philosophie und besonders den Thomismus studierte und… dann war der Zug angekommen.
Da stand er! Ein äußerlich etwas jovial wirkender alter Mann mit weißem Rauschebart, einem verschlissenen Mantel und einer komischen Baskenmütze auf dem Kopf – ganz anders als das Bild meiner Erinnerung eines kahlgeschorenen, strengen Asketen aus den sechziger Jahren. Aber der Blick! Der Blick war derselbe. Dasselbe Feuer, dieselbe durchdringende Schärfe.
Und dann liefen wir zusammen den Stockholmsvägen nordwärts zum Åvavägen, wo er wohnte. Wir machten artig Konversation über Musik und Musiker, und er erkundigte sich eingehend nach meinem musikalischen Hintergrund. Nicht zuletzt, um herauszufinden, ob ich für fähig erachtet werden könnte, seine Fantasia zu meistern, die offenbar eines seiner Hätschelkinder war. „Mein einziges Klavierwerk“, sagte er – eine Übertreibung, die sicherlich auf das Erstaunen darüber zurückzuführen war, daß sich jemand freiwillig für dieses schwere Werk interessierte.
Sein Haus lag am Rande einer Reihenhaussiedlung. Er hatte es übernommen, als seine Mutter starb, und es befand sich in einem ziemlich heruntergekommenen Zustand. Er lebte hier in Verhältnissen, die viele heute als Misere bezeichnen würden: ohne Wasser, Kanalisation und Zentralheizung. Das Wasser mußte er in Kanistern vom Nachbarn holen, und als einzige Wärmequelle diente ein kleiner elektrischer Heizofen. Das gesamte Rohrsystem war an einem kalten Herbsttag einige Jahre zuvor vom Frost zerstört worden, als eine Öllieferung ausblieb, die das Sozialamt in Täby hätte besorgen sollen.
Hier lebte und arbeitete er nun also in einem einzigen Zimmer im Erdgeschoß. Der Raum war vollgestopft mit Möbeln, Büchern und Partituren. An der einen Wand hatte er einen Hausaltar mit Marienbildern, Fotos von der Jesuitenschule in Innsbruck, Zeitungsausschnitten über den Papst, Reklamebildern von spielenden Kindern, Tourismusbroschüren über Rom und viele andere Dinge. Den Altar flankierten zwei hohe Glasglocken. In der einen befand sich ein Marienbildnis, die andere nutzte er, um seine Mütze daran aufzuhängen. Eine wilde Mischung also aus Hohem und Niedrigem, aus Sublimem und Banalem – eine Konstellation, die einem übrigens auch in seiner Musik begegnet.
Mitten im Raum, zum Altar hin gewendet, stand ein altmodisches Schreibpult mit einigen Bögen Notenpapier. Auf meine Frage, ob er gerade dabei wäre, etwas zu komponieren, rief er aus: „Ja, daran wird mich ja wohl auch keiner hindern können!“ hier, an seinem Schreibtisch, ließ er sich nun nieder. Ich setzte mich auf den äußersten Rand eines Sessels schräg gegenüber, umgeben von Haufen mit Partituren. Und während das Licht der Aprilsonne durch die staubigen und kaputten Scheiben fiel, begann er, mir sein Leben zu erzählen.
Er wurde 1920 in Kalkutta geboren, wo sein Vater als Vertreter eines schwedischen Unternehmens arbeitete. Getauft wurde er auf den Namen Klas-Thure. Die Familie zog bald schon nach Schweden zurück und ließ sich in Djursholm nahe Stockholm nieder. „Eigentlich“, pflegte er zu sagen, „bin ich Einwanderer – oder besser gesagt Einkrabbeler, denn ich war ja erst ein paar Monate alt, als wir hierher kamen.“
Im Alter von zwölf, dreizehn Jahren begann er, Geige zu spielen, wechselte aber schon bald zur Bratsche über. Bereits als Sechzehnjähriger wurde er an der Musikalischen Akademie aufgenommen. Er hatte auch schon mit dem Komponieren begonnen und war ein eifriger Wagnerianer. Im Jahre 1937 durfte er gemeinsam mit seiner Schwester zu den Bayreuther Festspielen reisen, wo auch Hitler anwesend war. Die Aufregung um Hitler konnte Allgén für sein Leben nicht verstehen. „Er sah doch einfach nur lächerlich aus mit seinem kleinen Schnauzbart.“ Nach dem Bayreuth-Besuch klang die Wagner-Begeisterung allmählich ab, und es kamen neue Hausgötter: Sibelius und Carl Nielsen. Die Liebe zu Nielsens Musik sollte, so scheint es, ein Leben lang Bestand haben.
Die Zeit an der Akademie war vielleicht die glücklichste in Allgéns Leben. In seinen Erzählungen kam er immer wieder auf das Ensemblespiel bei Charles Barkel, das Zusammensein und das gemeinsame Kammermusizieren mit Studienfreunden wie Per Rabe, Hans Nordmark, Sven-Eric Johanson und Magnus Enhörning, um nur einige zu nennen. Auch Allan Pettersson studierte zu dieser Zeit an der Akademie. „Der einzige in dem ganzen Haufen, der wirklich Bratsche spielen konnte!“
Allgén, der neben dem Violastudium eifrig komponierte, begann bald, bei Melcher Melchers Kontrapunkt zu lernen. Dieser wollte ihn auch als Kompositionsschüler, „aber ich hatte kein Vertrauen zu ihm als Komponisten. Er war dagegen ein ausgezeichneter Kontrapunktlehrer. Das habe ich ihm auch gesagt.“ Als Komponist reiht sich Allgén also in die stolze schwedische Tradition von Autodidakten ein. Unter den Mitstudenten befanden sich auch jene, die später die sog. Måndagsgruppen („Montagsgruppe“) ausmachen sollten. Neben Sven-Eric Johanson waren das u. a. Claude Genétay, Sven-Eric Bäck, Ingvar Lidholm und Hans Leygraf. Letzteren schätze Allgén übrigens als Komponisten sehr hoch ein.
Im Jahre 1941 verließ Allgén die Akademie, und wie die anderen in der „Montagsgruppe“ ging er zu Hilding Rosenberg. Zu mehr als einigen sporadischen Besuchen kam es allerdings nicht. Es scheint nicht so, als hätte Rosenberg für die Eigenart Allgéns viel Verständnis gehabt. Als Allgén Rosenberg einmal eine neue Partitur gezeigt hat, soll dieser gesagt haben: „Ich glaube, jetzt hat Frau Musica Herrn Allgén verlassen.“
1944 wollte er an einem Sommerkurs teilnehmen, den Rosenberg in einem kleinen Dorf in der Provinz Dalarna gab. „Das war gerade zu dem Zeitpunkt des Hitlerattentats. Alle saßen wie festgeklebt vor den Radioapparaten. Aber obwohl mein Vater die Reise, die Kursgebühr und die Unterkunft auf einen Schlag bezahlt hatte, durfte ich dennoch nicht an den eigentlichen Unterrichtsstunden teilnehmen, nur an den gemeinsamen Analysen. Als ich bei Rosenberg protestierte, sagte er nur: ‚Wir müssen wohl in den Wald gehen und die Sache regeln‘. Da habe ich geantwortet: ‚Aber ich bin so schwach. Ich traue mich nicht, mit Ihnen in den Wald zu gehen!‘ Ja, eigentlich habe ich wohl die Veranstaltung gestört, mit meinem religiösen Sendungsbewußtsein. Ich war damals ganz und gar fanatisch.“
Die Religion hatte also in Allgéns Leben Einzug gehalten. Mit brennendem Eifer studierte er nun Theologie. 1950 konvertierte er und nahm, nach verschiedenen Heiligen, den Namen Claude Johannes Maria an. Der Name Loyola kam später bei der Kommunion hinzu, bei der man sich einen Namenspatron aussuchen kann. Allgén entschied sich für den Gründer des Jesuitenordens, Ignatius de Loyola – ein Heiliger, der ihm viel bedeutete.
Der Kontakt zu den übrigen Mitgliedern der „Montagsgruppe“ bestand allerdings weiter. Allgén nahm bei Blomdahl Unterricht in Melodieführung und war häufig bei den Zusammenkünften in dessen Wohnung in der Stockholmer Drottninggatan dabei. „Die ‚Montagsgruppe‘ ist ja im nachhinein allerdings kolossal überbewertet worden“, meinte Allgén. „Wir haben uns nur getroffen, um Kaffee zu trinken und über Hindemith zu diskutieren. Erst später haben einige Musikkritiker das ganze aufgeblasen und Musikgeschichte daraus gemacht, nur um sich selbst interessant zu machen!“
Für die Vorliebe der „Montagsgruppe“ für ältere Musik und ihre Aufführungspraxis auf Originalinstrumenten hatte Allgén nicht viel übrig: „Wie kann man nur Gambe spielen, wenn es Cello gibt?“ „Aber Sie haben doch selbst für Gambe geschrieben“, entgegnete ich. „Nein, das habe ich wahrhaftig nicht!“ Da holte ich aus meiner Tasche die Partitur von Dedicatio ad Mariam für die originelle Besetzung Sopran, Alt, Englisch Horn, Viola da Gamba und Schreibmaschine. Beim Text handelte es sich um Allgéns eigene lateinische Übersetzung von Erik Lindegrens Tillägnan („Zueignung“). Er schaute eine Weile auf die erste Seite. Dann entfuhr es ihm: „Ja, tatsächlich! Das ist meine Handschrift. Dann muß ich es ja auch geschrieben haben! Ja, wissen Sie, ich habe so ungeheuer viel Musik geschrieben, daß ich mich nicht an alles erinnern kann!“
Sven-Eric Johanson dürfte wohl unter den Komponisten in der „Montagsgruppe“ derjenige gewesen sein, der Allgén am nächsten stand. Johansson gehört auch zu den wenigen Organisten, die dessen Orgelwerke zur Aufführung gebracht haben. Allgén sprach immer wieder mit großer Wärme von „Hemfosa“, wie er ihn nannte, und dessen außerordentlicher Begabung. „Er ist auch der einzige, der mich in den letzten Jahren besucht hat.“
Die Kluft zwischen Allgén und den übrigen Mitgliedern der „Montagsgruppe“ vertiefte sich zunehmend. Aus der Gruppe gewannen alle, mit Ausnahme von Johansson, bald einflußreiche Positionen innerhalb des Musikbetriebs. Allgén reiste ins Ausland, um sein Priesterstudium aufzunehmen. Von 1953 an war er an einer Schule in Holland eingeschrieben, danach an der philosophischen/theologischen Fakultät, Canisianum, in Innsbruck, wo er bis 1961 blieb.
Diese Jahre müssen von unerhört harter Arbeit gezeichnet gewesen sein. Neben dem Theologiestudium widmete sich Allgén umfassenden Sprachstudien, unter anderem in Latein, der offiziellen Umgangssprache am Kolleg. Alle Unterrichtsstunden wurden auf Latein abgehalten. „Die anderen Studenten waren noch junge Burschen. Ich war der älteste von allen. Ich war ja ein Spätberufener, da mußte ich viel einstecken. Zum Komponieren kam ich nur in den Nächten und in den Sommerferien, in denen ich zu Hause in Schweden war.“
Allgén muß wie ein Sonderling gewirkt haben, sowohl auf seine Lehrer als auch auf seine Studienkollegen. Durch Mitstudenten erfuhr er wiederholte Male gemeines Mobbing, und die Lehrer begegneten ihm wohl mit Unverständnis und Verwunderung.
In seiner Innsbrucker Zeit komponierte Allgén einmal eine Huldigung für den scheidenden Rektor. Er schrieb Variationen über Innsbruck, ich muß dich lassen für Streichorchester oder -Quartett. „Ich selbst und einige Studienkollegen sollten spielen. Ich versuchte, alle Stimmen außer meiner eigenen so einfach wie möglich zu komponieren, denn keiner der anderen konnte wirklich richtig spielen. Wir führten das Stück bei der Verabschiedungsfeier in der Kapelle auf. Wie das klang! Furchterregend! Ja, das klang wirklich abstoßend. Vollgestopft mit Vierteltönen durch und durch. Nach der Aufführung kam der Rektor zu mir und sagte mitleidsvoll: ,Allgén, Sie müssen wirklich ein zutiefst disharmonischer Mensch sein!’“ Während er mir diese Episode erzählte, schüttelte sich Allgén förmlich vor Lachen.
Im Jahr 1961 schloß Allgén sein Studium in Innsbruck ab, jedoch ohne die Priesterweihe erhalten zu haben. Daß ihm diese verweigert worden war, stellt sicherlich eine der großen Tragödien seines Lebens dar, und es kursieren die unterschiedlichsten Gerüchte über Ursachen und Anlässe. Nach eigener Aussage lag der Grund hierfür in dem Umstand, daß Allgén während seiner Studienzeit formell weder einen Bischof noch eine Gemeinde hinter sich hatte. Er hatte mehr oder minder auf eigene Faust zu studieren begonnen. Um die Priesterweihe zu erhalten, mußte man aber eine Gemeinde haben, sozusagen als Garantie für eine Anstellung. Über viele Jahre suchte er dann einen solchen formellen Halt an verschiedenen Orten in Europa, allerdings vergebens.
Allgén kehrte nach Schweden zurück – ein Priester ohne Amt und Gemeinde, ein Komponist ohne Publikum. Was ihm fehlte, war eine Versorgungsgrundlage. Er bewarb sich um Vertretungsstellen als Bratscher in verschiedenen Stockholmer Orchestern, suchte Arbeit als Lehrer und er versuchte mit allen Mitteln, seine Musik bekannt zu machen und zur Aufführung zu bringen, jedoch zumeist erfolglos.
Zunächst wohnte er bei seiner Mutter, nach ihrem Tod dann allein in dem Haus in Täby. Hier nun begann die Zeit der zunehmenden Isolation und eines langen, demütigenden Kampfes gegen Behörden und Bürokratie. Ein Kampf, der Allgén, wie er selbst meinte, viele Jahre seines Lebens raubte und über den er mit großer Verbitterung sprach. Gegenüber den erfolgreicheren Kollegen und früheren Mitstreitern oder dem Musikbetrieb, der ihn so schmerzhaft ignoriert hatte, zeigte Allgén allerdings niemals Verbitterung. Eher Enttäuschung und Entmutigung, aber niemals Verbitterung. „Ich kann ja nichts daran ändern, daß meine Musik nicht gespielt wird“, pflegte er zu sagen. „Ich werde sie niemals zu hören bekommen, aber ich habe getan, was mein Anteil hierzu gewesen wäre. Ich habe meine Aufgabe erfüllt.“
Aufgrund fehlender Einkünfte sah sich Allgén gezwungen, von der Sozialhilfe zu leben. Man versuchte ihn in Frührente zu schicken – eine für Allgén selbstverständlich inakzeptable Lösung. Er mußte bis zum Oberlandesgericht gehen, um Recht zu bekommen. Zu der Geschichte gehörte, daß Allgén durch eine Erbschaft in Aktienbesitz gekommen war, der ihn für den Bezug von Sozialhilfe im eigentlichen Sinne disqualifizierte. Diese Wertpapiere waren allerdings als finanzieller Grundstock für ein Kinderheim gedacht, das Allgén in seinem Haus nach seinem Tod einzurichten beabsichtigte. Das Sozialamt in Täby schien dennoch die Paragraphen mehr als den Menschen im Blick zu haben.
Die Jahre vergingen, und Allgéns zum Teil selbst gewählte Isolation und seine soziale Misere nahmen ebenso zu wie das Gefühl, verstoßen und ausgeschlossen zu sein. Er hatte so gut wie keinen Kontakt zu seinen Kollegen. Erst im Jahr 1973 befand man ihn für würdig, in den Verband Schwedischer Komponisten (FST –Föreningen Svenska Tonsättare) aufgenommen zu werden, zu einem aufsehenerregend späten Zeitpunkt, bedenkt man, daß Allgén hier schon auf eine fünfunddreißigjährige Schaffenszeit zurückblicken konnte! Es war Karl-Erik Welin, der die ehrenhafte Initiative hierzu ergriffen hatte. Allgén erzählte von dem ersten und einzigen Essen des Verbandes, an dem er je teilnahm. Wie er von Täby zu Fuß zum Tegnérlunden in der Stockholmer Innenstadt gegangen war, von Rosenberg, der ihn geduzt und den Allgén daraufhin kindlich mit „Onkel“ angesprochen hatte. „Nein“, so Allgén, „ich ging nicht noch einmal zu einem dieser Essen. Ich konnte mir ja noch nicht einmal das Fahrgeld leisten. Übrigens fand da auch gar nichts Bemerkenswertes statt!“
An dieser Stelle hielt er in seinem langen Monolog plötzlich inne, wurde still und nachdenklich. Die Sonne begann schon hinter den Baumwipfeln zu verschwinden. Es dunkelte, und im Zimmer wurde es ein wenig feucht und kalt. „Ja“, sagte er schließlich, „wenn ich mein Leben noch einmal leben dürfte, würde ich alles ganz anders machen. Der Mensch ist ein soziales Wesen und soll nicht für sich allein leben. Isolation bekommt ihm nicht.“ „Aber war die nicht zum Teil selbstgewählt?“ fragte ich. „Nein, die habe ich nicht gewählt. Es kam einfach so. Ich kehrte nach Schweden zurück und wußte nicht wohin. Da mußte ich hier bei meiner Mutter wohnen. Allmählich verlor ich den Kontakt zum musikalischen Leben draußen. Es gab auch niemanden, der zu mir Kontakt haben wollte. Nein, wenn ich heute noch einmal Karriere machen wollte, so wäre das als Schriftsteller. Ich habe unerhört viele Gedichte in meinem Leben geschrieben. Eigentlich liegt hier meine große Begabung.“
Ein wenig erstaunt über diese Kehrtwendung, bat ich ihn, mir doch etwas zu zeigen, aber das wollte er nicht. Einige Gedichte waren wohl publiziert worden, unter anderem 1949 in der Zeitschrift Utsikt . „Einmal wollte ich eine Oper aus Der Kaufmann von Venedig schreiben. Ich hatte das Stück zusammen mit meinen Eltern auf deren Silberhochzeit gesehen. Ich wollte Erik Lindegren als Librettisten. Als dieser meine eigenen Texte zu Gesicht bekam, sagte er nur: „Das kannst du doch selbst machen!“
Der Besuch ging nun allmählich seinem Ende entgegen. Nach einigen zusammenfassenden theologischen Auslegungen rief Allgén plötzlich: „Wissen Sie, hier stehen Sie vor dem Handlanger des Papstes! Reserve-Jesus nennen sie mich hier in Täby. Aber glauben Sie mir, mein Humor und meine gute Laune sind es gewesen, die mich in den Jahren aufrecht gehalten haben.“
So verabschiedeten wir uns fröhlich voneinander mit dem gegenseitigen Versprechen auf ein baldiges Wiedersehen.
Beide hielten wir unser Versprechen. Darüber hinaus rief Allgén hin und wieder an, um zu hören, wie es mit der Einstudierung der Fantasia voranging. In dieser Sache konnte ich ihm immer noch keine größere Freude bereiten. Dagegen erzählte ich ihm, daß ich mit anderen Werken auf ein Konzert hinarbeitete, das ausschließlich seiner Musik gewidmet sein sollte. Er schien dieser Idee zunächst sehr skeptisch gegenüber zu stehen. Etwas anderes konnte man nach all den Jahren der Enttäuschung wohl auch nicht erwarten.
Das erste Konzert überhaupt, das ausschließlich der Musik Allgéns gewidmet war, fand am 24. September 1989 im Folkets hus von Borås statt – ein Konzert, das unwiderruflich den Mythos vom unspielbaren Allgén zerstörte. Björn Nilsson, die dynamische Kraft hinter dem Verein Ny Musik („Neue Musik“), hatte ein abwechslungsreiches Programm aus Liedern, Chorwerken – zum Teil auch im Arrangement für Streichquartett –, einigen kleineren kammermusikalischen Werken für Streicher und einigen Quartettsätzen zusammengestellt. Von den Klavierwerken stellte ich Ave maris stella und Nocturne vor. Ich hatte außerdem den Auftrag, den Komponisten abzuholen und ihn bei seiner Reise zu begleiten.
Es wurde eine Zugreise, die ich wohl nie vergessen werde. Allgén war bei übersprühender Laune. Er unterhielt das ganze Abteil mit Geschichten und Anekdoten. Wenn der Schaffner mit der Frage „Noch Neuzugestiegene?“ vorbeikam, antwortete er jedesmal: „Nee, wir sind alt. So alt, daß uns bereits Bärte zu wachsen beginnen.“ Dann krümmte er sich vor Lachen. Dieser Ablauf wiederholte sich wortgetreu ein jedes Mal, wenn der Schaffner vorbei kam.
Die ganze Reise nach Borås und erst recht das Konzert selbst müssen ein bedeutendes Erlebnis für ihn gewesen sein. Diese plötzliche Aufmerksamkeit nach Jahren der Isolation und Stille. An dem Tag des Konzerts mußte er außerdem sogar noch drei Interviews geben. Es ist daher vielleicht nicht so verwunderlich, daß Allgén nach dem Konzert, das sich aus insgesamt 17 Werken, darunter 14 Uraufführungen zusammensetzte, einen Anflug von Verwirrung zeigte und sich fragte, ob er das alles denn wirklich geschrieben haben sollte.
Mein letztes Zusammentreffen mit Allgén fand an dessen siebzigstem Geburtstag statt. Ich hatte unter anderem eine Kassette mit einer Aufnahme der Liturgiska melodier („Liturgische Melodien“) bei mir, die wir zuvor in demselben Jahr aufgeführt hatten. Allerdings in einer Bearbeitung für zwei Klaviere… Er begrüßte mich mit den Worten: „Wissen Sie, eigentlich sollte ich Sie auf direktem Wege hinausschmeißen! Mir ist zu Ohren gekommen, daß Sie diese Bearbeitungen gespielt haben. Aber kommen Sie ’rein, wenn Sie nun schon einmal da sind!“ Ich hatte für das letzte Wegstück ein Taxi genommen, worüber sich Allgén sich zutiefst empörte: „Was für eine Verschwendung! Sehen Sie wenigstens zu, daß STIM (Schwedische Verwertungsgesellschaft von Urheberrechten – entspricht ungefähr der deutschen GEMA) oder der FST die Rechnung zahlen. Irgend etwas können die doch wohl auch einmal für mich tun!“
Er schien in einem unerhört angespannten und aufgedrehten Zustand. Er sprach unablässig von dem geplanten Kinderheim und all den rechtlichen und juristischen Widerständen, die nunmehr sein Leben einnahmen. Schließlich wollte er ein wenig in die Kassette hineinhören. Nach einer Weile des Zuhörens sagte er mit einem Augenzwinkern: „Das klingt typisch nach Allgén, oder? He, he!“ Als ich dann gehen mußte, schien er plötzlich wie von einer Art Einsicht ergriffen. Er deutete mit einer Handbewegung in das Zimmer hinein und sagte: „Ja, das hier ist nicht gerade der Stil meiner Mutter! Ich frage mich, was sie sagen würde, wenn sie mich hier so sähe. Übrigens war es ihr Verdienst, daß ich angefangen habe, mich mit Musik zu beschäftigen. Mein Vater war vollkommen dagegen. Zuerst wollte ich Dirigent werden. Als ich ihm das erzählte, schlug er im Besoldungsregister nach, um zu sehen, was Nils Grevillius für Jahreseinkünfte hatte. Aber meine Mutter unterstützte mich.“
Als wir uns verabschiedet hatten, machte ich mich auf den Weg. Allgén stand noch in der Tür und rief mir hinterher:“ Und vergessen Sie nicht, die Taxirechnung an den FST zu schicken!“
Einige Monate später war er tot. Er verbrannte in seinem Haus in der Nacht zum 18. September 1990, als direkte Folge seines Kampfes mit den Behörden. Er hatte offenbar seine Stromrechnung seit langem nicht bezahlt, so daß schließlich die Elektrizitätswerke ihm den Strom abstellten. Man nimmt an, daß er bei einer brennenden Kerze eingeschlafen war.
Bei dem tragischen Brand wurden natürlich auch unersetzliche Werte in Form von Partituren, Skizzen, Transparenten usw. zerstört, darunter Allgéns letzte Komposition, ein Saxophonquartett. Dessen merkwürdig symbolbeladener Titel Horror vacui („Der Schrecken vor der Leere“) könnte übrigens als Motto für und Essenz des gesamten Schaffens von Allgén stehen.
Ein großer Schrank auf der oberen Etage hatte allerdings das Feuer einigermaßen überstanden. In diesem befanden sich ein großer Teil des Jugendwerkes, Skizzenbücher und unter anderem die ersten 18 Sätze von 24 geplanten eines unvollendeten, gigantischen Violinkonzerts, in dem jeder Satz auf einer Paganini-Caprice aufbaut. Paradoxerweise beginnen erst jetzt, nach seinem Tod, die Konturen, Linien und Zusammenhänge im Schaffen Allgéns erkannt zu werden. Die Skizzenbücher geben hier ebenfalls unschätzbare Einblicke in die Arbeitsweisen des Komponisten.
Was vielleicht als erstes bei einem Blick in die Partituren Allgéns auffällt, ist die manchmal enorme Länge und dichte, kontrapunktische Struktur der Werke. Das Violinkonzert sowie eine Reihe der Orchesterwerke und Streichquartette weisen Spieldauern von über einer Stunde auf, das Streichtrio von 1975 dauert sicherlich bis zu zwei Stunden, und über die Länge des unvollendet gebliebenen Violinkonzerts kann man lediglich spekulieren … Ein Vergleich mit dem „neuentdeckten“ Sorabji liegt nahe. Selbstverständlich liegen auch Werke in kleinerem Format vor, ja, hinter den meisten Titeln in der Werkliste des Komponisten verbergen sich deutlich kürzere Spieldauern.
Viele Werke liegen darüber hinaus in mehreren Versionen vor. Allgén bearbeitete und revidierte beständig seine Musik. Und fast ausnahmslos wuchs die Musik hierbei, schwoll an, wurde länger, dichter und mehrstimmiger. Er fügte neue Abschnitte hinein, arbeitete Durchführungen aus und verdichtete das Stimmengewebe zu größerer Komplexität. Durchgangstöne, Figurationen und Triller wurden eingefügt. Eine besondere Vorliebe hegte der Komponist für Pralltrillern, ob als Ornament oder in rhythmisierter, auskomponierter Form. Abschnitte, die in ihrer ersten Version eine deutliche Tonalität oder vielleicht eine strukturelle Einfachheit zu erkennen gaben, wurden „verunreinigt“ mit fremden Tönen, verkompliziert mit neuen, hinzugenommenen Stimmen. Wiederum Horror vacui!
Es fällt im übrigen auf, wie Allgén seine Musik „wiederverwertet“, wie ältere Kompositionen, ja, sogar Jugendwerke in neuem klanglichen Gewand wieder auftauchen. Oft werden Teile und Schichten aus mehreren Kompositionen so kombiniert, daß ein neues Ganzes entsteht. Man kann zweifellos den Eindruck gewinnen, daß es sich eigentlich um ein und dasselbe gigantische Werk handelt, das immerzu nur von unterschiedlichen Richtungen aus beleuchtet wird.
Ich möchte mich hier bei meiner Darstellung auf das Klavierwerk konzentrieren. Diesem kommt, wie bereits angedeutet, eine Sonderstellung im Œuvre des Komponisten zu, zum einen aufgrund seines verhältnismäßig geringen Umfangs, zum anderen aber auch wegen der stilistischen und kompositionstechnischen Abweichungen.
Allgén muß von der Musik wie von einem Hammerschlag getroffen worden sein. Als er zu komponieren anfing, dürfte die Musik förmlich nur so aus ihm herausgeströmt sein. Viele der Jugendwerke sind verloren gegangen, aber die erhalten gebliebenen lassen das Bild eines frühreifen, ungeheuer aufnahmebereiten Teenagers erkennen, der alle Arten von Musik, mit denen er konfrontiert wird, aufsaugt, imitiert, bearbeitet.
Allgéns früheste Komposition ist ein Klavierstück, Sorgepreludium op. 1 („Trauerpräludium op 1“, vollendet 28/2 1934). Das Titelblatt zeigt eine Leier, eine Blume und gekreuzte schwedische Fahnen. Die Musik, die von einem feierlichen Pathos in langsamen Tempi gekennzeichnet ist, vermittelt einen unbeholfenen und tastenden Eindruck. Allgén hatte offensichtlich Schwierigkeiten, seine Ideen zu Papier zu bringen.
Aus den folgenden drei Jahren ist so gut wie nichts erhalten geblieben, die hinterlassenen Manuskripte aus dem Zeitraum danach aber geben zu erkennen, wie der Komponist ein Werk nach dem anderen mit verblüffender Eile fertigstellt. Hier trifft man auf einen technisch bereits bedeutend versierteren Komponisten. Die Musik, die von Homophonie geprägt ist, läßt sich stilistisch zwischen Grieg, Peterson-Berger, Sibelius und später sogar Nielsen ansiedeln. Allgéns Kompositionen ist mit nahezu seismographischer Deutlichkeit eingeschrieben, was dieser gerade gehört oder selbst gespielt hat.
Obwohl es sich hier also im Grunde weitgehend um Anleihen oder sogar Diebesgut handelt, so tritt doch gerade in dieser Art, sich das Gehörte zu eigen zu machen, bereits das für die Arbeit des Komponisten Charakteristische hervor – eine Technik, die sich auch in den späteren Klavierwerken wiederfinden läßt. Eine Technik der Metamorphosen, bei der ein Stück auf vielleicht nur einem Thema aufgebaut wird, das dann beständig wiederkehrt, allerdings in veränderter Gestalt. Dabei kann es die Begleitung sein, die unterschiedlich auftritt, das Tempo, Register oder die Dynamik, die verändert werden, das Thema selbst aber bleibt klar erkennbar und mehr oder weniger unverändert. Kontrastierende Nebenthemen oder direkt motivistische Arbeiten kommen also nicht vor. Auffallend ist dabei das ungeheure klangliche Bewußtsein, das Gefühl für das Klavier. Es handelt sich hier um eine romantische, oft hoch dramatische und expressive Musik in einem prachtvollen, sinnlich satten Klaviersatz, der manchmal Assoziationen zu Skrjabin weckt.
Aber dann geschieht etwas. Zwei Klavierstücke, nahezu unmittelbar aufeinanderfolgend und datiert auf den Dezember 1940, zeugen von einem Wendepunkt und einer neuen Phase in Allgéns Entwicklung. Es ist der Kontrapunktiker Allgén, der sich in den Stücken Scherzo in c-Moll und Fuge in a-Moll zeigt. Die beiden Werke dürfen wohl als die frühesten Früchte des Kontrapunktstudiums bei Melchers betrachtet werden.
Das Scherzo ist eine wildwüchsige und gespreizt polyphone Studie in ABA-Form, deren verschiedene Teile jeweils eine kleine Fuge bilden. Hier liegen bereits erste Ansätze und Versuche vor, zu einer größeren Ausschöpfung des Materials zu gelangen. Auch finden sich hier Modulationen und freche Chromatiken, die andere mehr oder minder gleichzeitig entstandene polyphone Stücke im Vergleich wie zahme Schulbuchbeispiele wirken lassen. An Busoni fühlt man sich manchmal erinnert. Durch das kontrapunktische Gefüge schimmert – wie bei diesem – Bach hindurch.
Das gleiche gilt für die dreistimmige Fuge. Man findet pasticciohafte Teile, aber auch einen kühnen Umgang mit Dissonanzen, der in seiner Konsequenz die Ideen des reifen Kontrapunktikers in bezug auf die absolute Selbständigkeit der Stimmen und der hundertprozentigen Ausschöpfung des Materials bereits vorwegnehmen.
Die Fuge stellte offensichtlich einen wichtigen „Pfeiler in Allgéns Kathedrale“ dar, und er kam mehrfach auf sie zurück. Unter anderem komponierte er eine Version für Streichorchester, und sie lieferte das Ausgangsmaterial für die Komposition der Doppelfuge für Orgel Mitte der vierziger Jahre. Diese wiederum läßt in anschaulicher Weise etwas von Allgéns Arbeitsmethoden erkennen.
Die drei Stimmen der Fuge werden um zwei weitere ergänzt. Das Material hierzu stammt aus dem Orchesterwerk Les impressions de Poculectelocte. Die Stimmen werden so transponiert, daß niemals ein und derselbe Ton in der Vertikalen auftaucht, gemäß der Theorie von der Selbständigkeit der einzelnen Stimmen. Darüber hinaus findet hier auch eine Selbständigkeit auf der rhythmischen Ebene ihre Umsetzung. Gegen den 4/2 bzw. 8/4-Takt der Grundfuge weist die eine Stimme zeitweilig einen 9/4-Takt und die andere später einen 7/4-Takt auf. Diese Form eines metrischen Kontrapunktes, der auch in anderen Werken auftaucht, wurde von Allgén selbst als „Meterfission“ bezeichnet.
Die äußerste Konsequenz von Allgéns kontrapunktischem Denken kann anhand des Chorsatzes Skåder, Skåder nu här alle für zwölfstimmigen gemischten Chor studiert werden. Der Satz besteht aus gleichmäßig schreitenden Halbnoten in allen Stimmen und alle zwölf Töne sind in jedem Akkord vertreten. Es handelt sich hier also um ein durchkomponiertes Cluster, in dem das Verhältnis der Töne zueinander bei jedem Halbnotenschritt verändert wird. Allgén komponierte dieses Werk im Dezember 1945.
Nocturne för piano ist ein undatiertes, aber auf jeden Fall später entstandenes Werk, der Mutter Hjördis und der Schwester Mary-Anne Allgén gewidmet. Ein klangschönes Stück in archaisierendem Stil mit deutlicher Tonalität, stilistisch zwischen Brahms, Mozart und Nielsen schwankend. Das Stück taucht später in anderen Zusammenhängen wieder auf, unter anderem in Nocturne für Violine und Klavier. Die Klavierstimme wurde hier vollkommen beibehalten. Die hinzugefügte Violinenstimme baut auf dem Material der Klavierstimme auf, allerdings so transponiert, daß gemeinsame Töne vermieden werden. Diese zeitweilig bitonale Musik vermittelt einen eigenartigen Eindruck. Man bekommt das Gefühl, als ob die Musik in mehreren Räumen stattfände, zwei parallele Verläufe, bei denen die starke tonale Verankerung der Klavierstimme ausgedünnt wird und eine Art tonaler „Grauzone“ entsteht.
Auf meine Frage, wo die Impulse zu diesem höchst originellen Werk, das wohl zweifelsfrei in Schweden zu dieser Zeit aus sämtlichen Rahmen fällt, zu suchen seien, antwortete Allgén: „Tja, ich habe nur erfunden!“ Schönberg und Weber kannte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht – die „Montagsgruppe“ beschäftigte sich ja mit Hindemith – und während der Auslandsaufenthalte blieb keine Zeit, um zu dem „Neuen“ den Kontakt zu suchen. Der Geist eines Charles Ives liegt hier in nicht allzu großer Ferne.
Techniken der Zwölftonmusik im eigentlichen Sinne hat Allgén niemals angewandt. Aber durch die Kombination mehrerer Stimmen und in der Umsetzung der oben erwähnten „negativen Rücksichten“ entstehen dennoch häufig zwölftonähnliche Komplexe. Allgéns Arbeitsweise kann mitunter Erinnerungen an Weberns frühe „intuitive“ Zwölftontechnik wachrufen. An den Rändern der Skizzenbücher notierte der Komponist Tonvorräte, die ihm zur Verfügung standen, und hakte dann die jeweils verwendeten Töne ab.
Bedenkt man die Bedeutung, die den Momenten von Theorie und Konstruktion in Allgéns Kompositionen zukommt, so stellt sich vielleicht schnell der Verdacht ein, daß es sich bei der Musik selbst ebenfalls um eine trocken und konstruiert wirkende handeln könnte. Das Merkwürdige aber ist, daß diese beständig von einer starken Expressivität durchzogen wird, einer nahezu ekstatischen Intensität, wie asketisch sie auch immer rein äußerlich zunächst erscheinen mag.
Es sollte bis zur Mitte der fünfziger Jahre dauern, bis Allgén erneut für Klavier komponierte. Aber dann mit Nachdruck! Im Sommer des Jahres 1955 stellte er sich selbst die Aufgabe, eine „schwierige Virtuosennummer“ für das Klavier zu schreiben. Auf diese Weise entstand die erste Version der Fantasia, datiert auf den 2. August 1955.
Die Arbeitsweise stellt hier eine weiterentwickelte und verfeinerte Form der bereits beschriebenen Metamorphosetechnik dar, allerdings mit einigen wesentlichen Abweichungen. In der langsamen Einleitung des Werkes wird zunächst das musikalische Grundmaterial präsentiert, das „Urelement“: eine Quintenreihe, in der alle zwölf Töne vorkommen, paarweise Kombinationen von Dreiklängen, wie z. B. C-Dur/b-Moll, eine akkordische, choralähnliche Partie und schließlich ein rhythmisches, motorisches Ostinatomotiv.
Aus diesen vier Quellen schöpft der Komponist dann mehr oder weniger frei bei der Entwicklung seines thematischen Materials, das sich aus etwa zehn unterschiedlichen, stilistisch ziemlich heterogenen Themen zusammensetzt. Hier finden sich rhythmische, frenetische, an Bartók gemahnende Abschnitte, messiaensche Akkordfolgen, banale, beinahe schlagerhafte Melodien, aber von Allgéns unverkennbarer Harmonisierung gekennzeichnet, eine Habanera wird angestimmt usw…
Das Sublime und das Banale stehen hier unmittelbar nebeneinander, mehr oder weniger unvermittelt. Die Themen kehren in ständig variierten Reihenfolgen wieder, immer in neuer Umgebung. Als verbindendes Element fungiert das stürmisch virtuose Passagenwerk, in das die einzelnen Themen eingebettet sind und das sich immerzu verändert, erneuert. Zwischen den verschiedenen Themenkomplexen tauchen Glissandi, schnelle Passagen, eingestreute Kadenzen, zum Teil dem ja bereits hinreichend ausgeschöpften Fundus der romantischen Klavierliteratur entliehen. Im Mittelteil der Fantasia gibt es einen groß angelegten und relativ freien Durchführungsabschnitt.
Aber die Fantasia wuchs weiter. Die zweite Version wurde irgendwann im Laufe der folgenden Jahre fertiggestellt und war nun mit einer Spieldauer von 40 bis 50 Minuten mehr als doppelt so lang wie die erste. Die Handschrift der Schlußversion deutet dabei sogar auf noch spätere Überarbeitungen hin.
Hier liegen nun neue, gewaltige Durchführungen und Übergänge, hinzugefügte Stimmen und vollkommen neue Partien mit einem Spiel direkt auf den Saiten selbst vor. Alles wird von einer nahezu maßlosen Komplexität geprägt. Bei der Introduktion des Habanerarhythmus findet sich sogar eine kleine Fußnote des Komponisten auf Latein: „Hic obiciunt imperiti fabulantes: ’Hispania’. Respondeat tantum celeberrimo axiomate: Coram stutitia quisquis inerims:“ Übersetzt bedeutet dies ungefähr: „Hier wenden die unwissenden Schwätzer ein: ‘Spanien’. Hierauf kann man nur mit dem sehr bekannten Axiom antworten: Der Dummheit ist ein jeder schutzlos ausgeliefert.“ Dieses Axiom steht auch als Motto für das fünfte Streichquartett des Komponisten und sogar auf seiner Visitenkarte gedruckt!
Die Fantasia lag Allgén sehr am Herzen. Aus der zweiten Version erarbeitete er ein Orchesterstück, das selbst wiederum erweitert und revidiert wurde, im wahrsten Sinne bis zuletzt. Die Transparente zu diesem mächtigen Orchesterwerk wurden bei dem Brand vernichtet.
Die beiden folgenden Klavierstücke, Have a look at Mary? und Ave maris stella, sind die einzigen, die zu Allgéns Lebzeiten gedruckt wurden. Allerdings kam dieser ausgerechnet jetzt, wo sich ihm endlich die Möglichkeit bot, in das Licht der Öffentlichkeit zu treten, auf den bizarren Einfall, das unter dem Komponistennamen Anonymus zu tun!
Bei dem zuerst genannten Stück, das vermutlich zu Beginn der sechziger Jahre komponiert wurde, handelt es sich um eine kleine brillante, musikantische Studie. Der Titel spielt wahrscheinlich auf die Jungfrau Maria an, vielleicht aber auch auf die geliebte kleinere Schwester Mary-Anne. Sie war die einzige Person, die sich um Allgén bis zu ihrem Tod am Ende der achtziger Jahre gekümmert und ihm in den langen einsamen Jahren beigestanden hat.
Das Manuskript zu Ave maris stella, Nocturne für Klavier ist auf den 22. März 1962 datiert. Neben dem Titel stehen durchgestrichene Titelalternativen wie Impromptu, Echalom und Vorspiel zu Akt V von The Merchant of Venice. Es ist ein grandioses Stück, teilweise in spätromantischem, archaisierendem Stil, das auf zwei Themen basiert. Wie in einer Chaconne werden diese mit den für Allgén typischen akkordfremden Figurationen wiederholt. Eine beinahe ekstatische Musik, die an Liszt, Busoni und Messiaen zugleich erinnert. Das Stück erfuhr durch Tore Wiberg in einer Rundfunkaufnahme aus den späten sechziger Jahren eine kongeniale Uraufführung.
Das letzte Klavierwerk, Från ciss till cess („Von Cis bis Ces“), wurde 1986 geschrieben – ein acht bis neun Minuten lang andauernder Alptraum für die linke Hand mit einer ununterbrochenen Kette schneller Quintolen, gegen die eine absurd unbequeme und gespreizte rechte Hand sich absetzt. Eine Phantasterei, die in ihrer ursprünglichen Konzeption an die Grenzen des Spielbaren geht.
Sowohl Björn Nilsson als auch ich selbst haben viele Male versucht, Allgén dazu zu bringen, für zwei Klaviere zu schreiben. Doch solcherlei Ansinnen schnitt er mit den Worten ab: „Ich bin ein kontrapunktisch denkender Mensch. Das Klavier liegt mir ganz einfach nicht.“ Eine Behauptung, die durch seine gesamte Produktion von Klavierwerken allerdings widerlegt wird.
Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß Schweden nie einen Komponisten von der unangefochtenen Größe und Bedeutung besessen hat, wie sie unsere Nachbarländer mit Grieg, Nielsen oder Sibelius hatten. In Schweden gab es keinen, der auch nur im Entferntesten die Doppelfunktion aus Vordergrundsgestalt und nationaler Integrationsfigur hätte ausfüllen können. Häufig wird dieser Umstand als etwas Positives für das schwedische Musikleben gesehen – daß uns der dominierende Einfluß durch eine einzelne Persönlichkeit erspart geblieben ist.
Ich möchte hinzufügen, daß man es in Schweden auch nie zugelassen hätte, daß eine solche Persönlichkeit eine derartige Stellung einnehmen kann. In einem Land, das seine kulturelle Identität und sein kulturelles Erbe so konsequent verleugnet hat, ein Land, in dem Beamtentum und Bürokratie traditionell stark sind und wo eine breite Mittelschicht als die typische Trägerin von Kultur im eigentlichen Sinne fehlt, wäre jemand, der sich auf so herausfordernde Weise vom Mittelmaß abhebt, wie etwa Nielsen oder Sibelius es taten, niemals toleriert worden.
In einem solchen kulturellen Klima gibt es natürlich erst recht keinen Platz für ungewöhnliche Persönlichkeiten und Sonderlinge. Und daß man Allgén als einen solchen Sonderling bezeichnen muß, das steht wohl außer Frage. Folglich konnte er auch als solcher exkommuniziert werden. Mit diesem Schicksal steht er allerdings keineswegs allein da. Es gibt in Schweden reichlich Beispiele für Komponisten und Künstler, die auf unterschiedliche Weise versucht haben, gegen den Strom zu schwimmen und deshalb von den Vertretern des Establishments verstoßen wurden. Allgéns Fall ist wohl allerdings der augenfälligste und zugleich empörendste.
Die Mitstreiter aus der „Montagsgruppe“ unternahmen immer wieder ernsthafte Bemühungen, Allgéns Musik zur Aufführung zu bringen. Besonders Sven-Erik Bäck versuchte ihn auf verschiedene Weise zu unterstützen und ihm zu helfen, auch auf persönlicher Ebene. Doch Allgén war im Umgang sicherlich kein einfacher Mensch, und seine Musik ist durchgängig schwer zu spielen, wenngleich nicht unaufführbar. Er selbst erklärte bereitwillig: „Schwer ja, allerdings! Aber zeige mir irgend etwas, das unspielbar ist, dann schreibe ich es um!“ Der durchschnittliche instrumentale Standard und die allgemeine Bereitschaft, sich mit Werken dieses Schwierigkeitsgrads auseinanderzusetzen, waren zu dieser Zeit sicherlich nicht so hoch wie heute.
Die „Montagsgruppe“ galt ja als Vertreterin des „Neuen“, auch wenn es sich bei dem Neuen – will sagen Hindemith – damals, zumal aus einer europäischen Perspektive gesehen, um Neuheiten von vorgestern handelte. Das ästhetische Programm der Gruppe war in erster Linie eine Formulierung der eigenen künstlerischen Bestrebungen von Blomdahl, Lidholm und Bäck. Man huldigte nicht dem Modernen im Allgemeinen, sondern der eigenen speziellen Ausrichtung im Besonderen: den Materialstudien in der Tradition eines Hindemith oder Rosenberg. So gesehen ist Allgéns geradezu blasphemische Einstellung der Gruppe gegenüber verständlich.
Dagegen hat er vielleicht niemals geahnt, wie ungerecht seine Beurteilung der Leistungen der Gruppe auf musikpolitischer Ebene war. Gerade auf diesem Gebiet war die „Montagsgruppe“, und vor allem ihre Ausläufer, allerdings besonders einflußreich und sollte für mehrere Jahrzehnte das gesamte schwedische Musikleben nachhaltig prägen – gewissermaßen eine „verlängerte Montagsgruppe“ als eine Art musikbürokratisches Regime. Eine Hegemonie mit Vor- und Nachteilen.
Positiv zu beurteilen ist, daß durch sie der internationale Modernismus allmählich Einzug hielt. Daß dagegen Andersdenkende vernachlässigt, daß Komponisten, die nicht zu jener „Bruderschaft der Macht“ gehörten, ignoriert und daß Allgén auf diese beispiellose Weise behandelt wurde, ist in keinerlei Hinsicht vertretbar.
Daß Allgén als Störfaktor wahrgenommen wurde, daß er mit seinem oft arroganten und omnipotenten Auftreten das Mittelmaß herausgefordert hat, das wissen wir. Daß er in einem Musikleben, in dem die Bande der Loyalität hinter verschlossenen Türen geknüpft werden, als Unruheherd und Provokateur wahrgenommen wurde, das haben wir verstanden. Aber daß er mit solcher Unbarmherzigkeit von einem Establishment abgestraft werden sollte, das sich ansonsten immer gern seiner Radikalität und seines Weitblicks rühmte, ist ebenso skandalös wie wenig überraschend. Aber Allgéns Zeit wird kommen. Ich glaube, dessen sind sich heute viele bewußt.
Zu Allgéns Beerdigung wurde Björn Nilsson beauftragt, von uns, seinen neu gewonnenen musikalischen Freunden, Blumen zu schicken. Als letzten Gruß schrieben er das einzig Denkbare: „Claude, wir hören voneinander!